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 Sicherlich erinnern Sie sich nicht mehr daran, wie Plato im
    Entwurf seines Staats als vollendeten Gemeinwesens mit der Kunst verfährt. Er versagt ihr
    im Interesse des Gemeinwesens den Aufenthalt drinnen. Er hatte einen hohen Begriff von der
    Macht der Kunst. Aber er hielt sie für schädlich.  Daß Sie sich nicht mehr an Plato erinnern, macht gar
    nichts. Es gibt gerade in den Praxen partizipativer, aktivistischer, interventionistischer
    Kunst haufenweise Fälle, die Plato bestätigen, indem sie die Kulturalisierung und
    Ästhetisierung, damit Kaschierung von politischen Ungleichheiten betreiben und in ihrer
    Fürsorge für "wirkliche Menschen, wirkliche Neighbourhoods" laufend das
    "Andere" erst konstruieren. Ein beträchtlicher Teil der KunstproduzentInnen hat
    sich, nicht zuletzt unter dem Druck der wirtschaftlichen Verhältnisse im allgemeinen wie
    durch die Einbrüche des Kunstmarkts im besonderen, Anfang der 90er Jahre dem Trend der
    Community Art zugewandt. Vielen der daraus entstandenen, sich selbst als
    "politisch" verstehenden Projekten mangelte es in hohem Maß an der Reflexion
    der eigenen Arbeit, während sie vollmundig überschrittene Grenzen und die Kunst als
    soziales Heilmittel propagierten. Zum exemplarischen Vorzeigeprojekt wie zum
    paradigmatischen Punching Ball wurde in dieser Hinsicht fuer die USA Mary Jane Jacobs
    Sculpture Chicago - Culture in Action (1992/93) erhoben, in Österreich fungierten in
    diesem Zusammenhang vor allem die Arbeiten von Christine und Irene Hohenbüchler in
    ähnlicher Weise. Und geschrieben steht darüber auch einiges: Bei den gestrengen KritikerInnen und
    TheoretikerInnen des Interventionismus und Aktivismus, Marchart , Rollig , Kravagna ,
    Höller , Kwon , Babias und anderen. Aber auch schon viel früher und sehr grundlegend in
    Benjamins beiden kleinen Kunstaufsätzen , besonders im 1934 als Vortrag im Pariser
    "Institut zum Studium des Fascismus" gehaltenen "Autor als Produzent".
    Darin argumentiert Benjamin unter Anführung von Döblin, Heinrich Mann, dem
    Aktivismus-Theoretiker Hiller oder den ästhetisierenden Produkten der Neuen Sachlichkeit,
    daß ein erheblicher Teil der sogenannten linken Literatur gar keine andere
    gesellschaftliche Funktion besaß, als der politischen Situation immer neue Effekte zur
    Unterhaltung des Publikums abzugewinnen. Eine Tradition, deren Aufgreifen übrigens im
    Kunstfeld des heurigen Österreich eine exponentielle Steigerung von revolutionären
    Tönen hervorbrachte : Intendanten, Kunsthallenchefs, Kuratoren, die nach dem Sturm der
    Erregung über die Installierung der rechtstrechten Regierung im Februar schnell verstummt
    sind, nun ihr business as usual betreiben und Mitgliedern der Regierung, gegen die sie
    eben noch fundamental protestiert hatten, ihre Institutionen zu repräsentativen
    Auftritten öffnen.
 Wie steht's aber umgekehrt mit der positiven Aufladung des
    Politischen in der Kunst, mit den Erfolgen einer politisierten Kunst, mit effektiven
    Praxen der Intervention? Walter Benjamins Pariser Auftritt in der Höhle des Löwens, an
    einem volksfrontnahen Institut, in dem ästhetische Qualität dem Inhalt streng
    untergeordnet war, ist - paradoxerweise: so scheint es - ganz gegen die krude
    Utilitarisierung der Kunst, gegen reine Tendenzkunst gerichtet. Und gegen jede
    inhaltistische Instrumentalisierung der Kunst für die "richtige Politik"
    jenseits von Überlegungen über Technik, Qualität und Form. Die Tendenz, der Inhalt kann
    nur stimmen, wenn auch die Form stimmig ist. Die inhaltlich richtige Tendenz muß eine
    formale Tendenz einschließen. Diesem dialektischen Muster Benjamins folgend meine ich, daß gerade für produktive
    Spielarten von mikropolitischem Reformismus dem großen inhaltlichen Entwurf, der ins Vage
    geht und die Subjekte, sowohl die KünstlerInnen als auch ihre "Objekte" in den
    Communities, in den Vordergrund stellt, diesem großen Entwurf also die Intervention in
    die Form, die Veränderung der Strukturen vorzuziehen ist. Dazu ist im Sinne einer
    materialistischen Kritik vorab weniger zu fragen, wie ein Projekt zu den
    Produktionsverhältnissen steht, sondern wie es in ihnen steht. Was uns zu den von
    Benjamin beschriebenen Großeltern der Intervention bringt und dort vor allem zu einem,
    der in der Sowjetunion der späten 20er Jahre immer radikaler seine Kunstproduktion in
    konkrete mikropolitische Interventionen transformiert hat:
 Sergej Tretjakov unterscheidet den operierenden Schriftsteller vom informierenden. Seine
    Mission ist nicht zu berichten, sondern zu kämpfen; nicht den Zuschauer zu spielen,
    sondern aktiv einzugreifen. Er bestimmt sie, die Mission, durch die Angaben, die er über
    seine Tätigkeit macht: Als 1928, in der Epoche der totalen Kollektivierung der
    Landwirtschaft, die Parole: "Schriftsteller in die Kolchose!" ausgegeben wurde,
    fuhr Tretjakov nach der Kommune "Kommunistischer Leuchtturm" und nahm dort
    während zweier längerer Aufenthalte folgende Arbeiten in Angriff: Einberufung von
    Massenmeetings; Sammlung von Geldern für die Anzahlung auf Traktoren; Überredung von
    Einzelbauern zum Eintritt in die Kolchose; Inspektion von Lesesälen; Schaffung von
    Wanderzeitungen und Leitung der Kolchos-Zeitung; Berichterstattung an Moskauer Zeitungen;
    Einführung von Radio und Wanderkinos usw.
 Hinter diesem auf den ersten Blick skurril anmutenden
    Sammelsurium an Tätigkeiten steht das Konzept einer radikalen Verschiebung der Positionen
    sowohl der Kunstproduktion als auch der Kunstrezeption. Auf der Seite der ProduzentInnen
    vollzieht sich eine neue Variante der Politisierung von Kunst durch die Erweiterung der
    künstlerischen Kompetenz der Entwicklung neuer Formen zur Entwicklung von
    mikropolitischen Organisations-Formen. Nicht in der zum Klischee verkommenen
    Widerständigkeit des autonomen Kunstwerks, aber auch nicht in der plumpen Tendenz des
    revolutionären Sujets, sondern in der Übersetzung der formalen Fähigkeiten der
    KünstlerInnen vom Kunstwerk auf die Organisationsformen der Gesellschaft liegt demnach
    die politische Bedeutung der Kunst. Der Spezialfall des cultural worker, der
    "operierende Schriftsteller" hat dabei die Aufgabe, produktive
    Ausgangsbedingungen herzustellen, Anstöße zu geben, Strukturen zu hinterfragen.
    "Tendenz" erwächst dabei nicht aus der subjektiven Proklamation eines
    Besserwissenden, sie wird in den Erfahrungen der sich durch die "Literarisierung
    aller Lebensverhältnisse" verändernden Wirklichkeit selbst er-lebt. Und an dieser Stelle bewegt sich das Argument Tretjakovs von der Funktion der
    ProduzentInnen auf die andere Seite, wo eine möglichst lawinenartige Metamorphose von
    KonsumentInnen in ProduzentInnen ausgelöst werden soll:
 "Jeder Mensch kann und soll [...] in jedes von ihm produzierte Ding jenes Maximum an
    Genauigkeit, klarer Kontur und Zweckmäßigkeit einbringen, das bis heute nur die sich in
    dieser Sache hingebenden Spezialisten besessen haben, die Formsucher, die Arbeiter der
    Kunst. [...]
 Die Freude der Verwandlung des Rohmaterials in eine bestimmte gesellschaftlich nützliche
    Form, verbunden mit dem Können und dem intensiven Suchen nach der zweckmäßigsten Form -
    das ist es, was die Losung 'Kunst für alle' beinhalten sollte. Jeder soll ein Künstler
    sein, ein vollendeter Meister in der Sache, die er im gegebenen Moment tut."
 Besonders die letzten Punkte der Aufzählung von Tretjakovs Arbeitsfeldern in der Kolchose
    verweisen auf die Bedeutung der Medien Zeitung, Radio und Film für seine Konzeption einer
    Kunst für alle: Von der Liquidierung des Analphabetentums über die Wandzeitung bis zur
    Wandlung des einfachen Arbeiters in den Korrespondenten der Pravda, das war das Konzept,
    das Walter Benjamin wohl ein wenig voreilig schließen ließ, in der Sowjetunion komme die
    Arbeit selbst zu Wort.
 In der Beschreibung des Tätigkeitsfelds Tretjakows als
    Großvater der Intervention zeigt sich jedenfalls deutlich, was für Benjamin und auch
    für mich die wichtigsten Kategorien einer nichtinhaltistisch verstandenen
    Interventionskunst sind: Die Tätigkeit der InterventionistInnen liegt erstens eindeutig im Präproduktiven, also
    neben und vor allem vor dem Werkcharakter. Das bedingt ein weitgehendes Ausfallen der
    Ausstellbarkeit von Produkten, des Zirkulierens im Kunstmarkt, der Notwendigkeit von
    Vermittlung.
 Sie hat zweitens mit Eingriffen in die Form, in die Strukturen eines mikropolitischen
    Felds zu tun. Statt einer Arbeit an Produkten muß sie die Arbeit an den Mitteln der
    Produktion sein.
 Drittens ist über die mikropolitischen Effekte hinaus der Modellcharakter maßgeblich,
    der anderen ProduzentInnen einen verbesserten Apparat zur Verfügung stellen, sie zur
    Produktion anzuleiten vermag.
 "Was tun" ist nicht nur der Name der Konferenz,
    anläßlich derer dieser Text entstand, auch nicht nur einfach der Titel eines Aufsatzes
    von Lenin, es ist auch - wie Walter Benjamin erwähnt - die Frage, die sich Alfred Döblin
    1931 in "Wissen und Verändern!" gestellt hat. Seine kommunitaristische Antwort
    läuft auf einen Appell nach Menschlichkeit, Toleranz und Zusammenschluß der Menschen
    hinaus. Er beging dabei in Ermangelung von Reflexion der eigenen Position im
    Produktionsprozeß denselben Fehler wie die aktuelle identitätspolitische Tradition, die
    sich der Hilfe für und Unterstützung von "benachteiligten
    Gesellschaftsgruppen" und dem empowerment von Communities widmet. In diesen
    verunglückten Exemplaren der Community Art ist es gelungen, auch noch das Elend, die
    Ungleichheiten, indem sie auf modische Weise dargestellt werden, auszustellen, zum
    Gegenstand des Genusses, des Konsums zu machen, also den Brechtschen Kardinalfehler zu
    übertreiben, einen Produktionsapparat zu beliefern, ohne ihn zu verändern. Während der
    Zielgruppe, Community oder Neighbourhood durch den Prozeß des othering eine begrenzende
    Identität vorgeschrieben wird, halten die beteiligten KünstlerInnen ihre phantasmatische
    Stellung als flexible, alles überblickende UniversalistInnen. Frei nach Benjamin geantwortet: Wenn Intellektuelle oder KünstlerInnen ihren Ort neben
    dem Proletariat suchen, befinden sie sich schon über ihm. Denn was ist das für ein Ort?
    Der eines Gönners, eines ideologischen Mäzens. Ein unmöglicher.
 Wenn also im künstlerisch-wissenschaftlichen Feld gefragt wird, was zu tun sei, ist
    jedenfalls vorauszusetzen, daß eine wie auch immer geartete Solidarität des spezifischen
    (als einzig modellhaft möglichen) Intellektuellen mit "dem" Proletariat immer
    eine vermittelte bleiben wird. In der Nachfolge von Tretjakov und Co. wird es daher
    sinnvoll sein, sich nicht auf die Verbesserung der Menschen zu konzentrieren, sondern auf
    die Veränderung der Strukturen, die Ungleichheiten produzieren. Als Update der
    Brecht-Benjaminschen Forderung, den Produktionsapparat nicht zu beliefern, ohne ihn zu
    verändern, muß es nun heißen, den Produktionsapparat nicht zu beliefern, sondern ihn zu
    verändern.
 
 Links | Bio | Literatur: Marius Babias (Hg.), Im Zentrum der Peripherie.
    Kunstvermittlung und Vermittlungskunst in den 90er Jahren, Verlag der Kunst: Dresden/Basel
    1995Marius Babias, Achim Könneke (Hg.), Die Kunst des Öffentlichen.
    Projekte/Ideen/Stadtplanungsprozesse im politischen/sozialen/ öffentlichen Raum, Verlag
    der Kunst: Dresden 1998
 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,
    Suhrkamp, Frankfurt/Main 1963
 Walter Benjamin, Der Autor als Produzent, in: ders., Aufsätze, Essays, Vorträge (=
    Gesammelte Schriften, Band II 2), Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991, S. 690-701
 Christian Höller, Fortbestand durch Auflösung. Aussichten interventionistischer Kunst,
    in: Texte zur Kunst, Nr. 20/1995, S. 109-117
 Christian Kravagna, Arbeit an der Gemeinschaft. Modelle partizipatorischer Praxis, in:
    Babias/Könneke (Hg.), Die Kunst des Öffentlichen, S. 28-47
 Miwon Kwon, Im Interesse der Öffentlichkeit, in: springer II/4, S. 30-35
 Oliver Marchart, Von Proletkult zu Kunstkult oder Was Sie schon immer über kulturelle
    Hegemonie wissen wollten, aber in "Texte zur Kunst" nicht finden konnten, in:
    Gerald Raunig (Hg.), Kunsteingriffe. Möglichkeiten politischer Kulturarbeit, IG Kultur
    Österreich: Wien 1998, S. 120-127
 Gerald Raunig, Charon. Eine Ästhetik der Grenzüberschreitung, Passagen: Wien 1999
 Gerald Raunig, Wien Feber Null. Eine Ästhetik des Widerstands, Turia+Kant: Wien 2000
 Stella Rollig, Das wahre Leben. Projektorientierte Kunst in den neunziger Jahren, in:
    Babias/Könneke (Hg.), Die Kunst des Öffentlichen, S. 12-27
 Sergej Tretjakov, Die Arbeit des Schriftstellers. Aufsätze, Reportagen, Porträts,
    Rowohlt: Reinbek/Hamburg 1972
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